Die Verbindung von Immobilien und Fachkräftebedarf – Interview mit Michael Schöneich zur neuesten Studie von ISG
Kannst du die Fragestellung des Reports „Die Fachkräfte-Frage“ neu gedacht kurz darstellen?
Die gebaute Umwelt ist ein steingewordenes Zeichen des Vertrauens in die Zukunft. Aus Immobilien lassen sich Rückschlüsse auf mögliche künftige Arbeitsplätze ziehen. Unserer Meinung nach sind die Immobilien ein signifikant unterschätzter Indikator für künftigen Fachkräfte- und Personalbedarf. Eine frühzeitige Erfassung und Analyse von Investitionen in (zu bauende) Immobilien könnte sich als Katalysator für einen Wandel in der Qualifizierung und Ausbildung erweisen. Die Analyse dieser Daten ist ein mächtiges Tool. Es liefert Erkenntnisse über den künftigen Fachkräftebedarf in der Wissens-Ökonomie. Außerdem schafft es bei allen Beteiligten die Gewissheit, dass Investitionen in die Ausbildung und Bildung nicht verschwendet sind oder falsch eingesetzt werden. Wir von ISG glauben, dass wir so die Themen Immobilien, den künftigen Fachkräftebedarf und die Investitionen in die Ausbildung verbinden können.
Wie ist diese etwas ungewöhnliche Herangehensweise entstanden?
Deutschland ist – vergleichbar mit dem Vereinigten Königreich – eine erfolgreiche Industrie-Nation auf dem Weg zur Klimaneutralität. Die Regierung setzt dabei auf die Förderung von Innovationen und neuen Technologien. Deutschland hat Wachstumsperspektiven und ist weiterhin ein attraktiver Standort für Unternehmen. Dies zeigen mehrere wichtige Investitionsentscheidungen der letzten Zeit, insbesondere in Schlüsselindustrien. Es gibt jedoch immer mehr Belege aus den Schlüsselindustrien, dass die Verfügbarkeit von Arbeitskräften bei Investitionsentscheidungen zunehmend wichtiger werden. Daher wollte ISG untersuchen, ob zentral gespeicherte Daten über die bauliche Umwelt einen Teil dazu beitragen können, die Planung von Ausbildung und Qualifikation zu verbessern. Wir kamen dabei zu dem überraschenden Schluss, dass diese Informationen bei der Personalplanung und -ausbildung viel zu wenig Beachtung finden.
Für wen sind diese Informationen hilfreich?
Diese Informationen sind in mehrerlei Hinsicht hilfreich. Sie können dazu beitragen, eine bessere Koordinierung zwischen künftigen Talenten, Eltern, Lehrern und Ausbildungseinrichtungen zu erreichen. Unterm Strich kann die ganze Art und Weise verändert werden, wie Jugendliche, aber auch Arbeitnehmer an die Themen Ausbildung und Weiterbildung herangehen. Außerdem profitieren ganze Staaten davon, wenn Investitionsentscheidungen auf Basis der hochqualifizierten Fachkräfte vor Ort getroffen werden.
Gab es ein Ergebnis, das dich überrascht hat?
Ja, mehr als 70 Prozent der befragten jungen Menschen haben noch nicht entschieden, welchen Beruf bzw. welche Richtung sie nach dem Studium einschlagen werden. Das ist ein großer Pool an Menschen, der mit einer größeren Transparenz beim Thema Arbeitskräftebedarf positiv beeinflusst werden kann. Diese berufliche Unentschlossenheit könnte darauf hindeuten, dass sich junge Menschen zwar ihrer natürlichen Interessen und Begabungen bewusst sind, aber weniger sicher sind, wie sie diese nutzen und in ein Berufsbild überführen können. Die Förderung engerer Beziehungen zwischen der Angebots- als auch auf der Nachfrageseite der Qualifikationspipeline wäre daher für alle von Vorteil. Eine bessere Sichtbarkeit der Investitionsaktivitäten durch Open-Source-Daten sowie motivierte Organisationen und Einzelpersonen würden zu proaktiveren, frühzeitigen Gesprächen führen. Unterm Strich können so Nachfrage und Angebot bei den Arbeitskräften besser zusammengebracht werden.
Baugewerbe: das große vernachlässigte Werkzeug unserer strategischen Personalplanung
ISG's neueste Untersuchung ,Die Fachkräfte-Frage neu gedacht‘ verbindet Menschen, Arbeitsplätze und Produktivität.
Welche anderen Ergebnisse der Analyse waren für dich neu?
Die Ergebnisse zeigen, dass junge Menschen ihre persönlichen Interessen und ihre Fähigkeiten bei der Berufswahl gleich stark gewichten. Weitere wichtige Kriterien bei der Berufswahl sind Freude an der Arbeit, eine gute Work-Life-Balance, positive Effekte auf die Gesellschaft und Karrieremöglichkeiten. Außerdem sollten einige Branchen auf klarere und zielgenaue Botschaften setzen. Dies wird das Verständnis für diese Sektoren erhöhen: Die Wahrnehmung wird sich verändern und einen Beitrag dazu leisten, wieder mehr Fachkräfte in diese Branchen anzuziehen. Die Bauindustrie ist ein schönes Beispiel. Bei einer genaueren Betrachtung dieser Branche stimmten beispielsweise 53 Prozent der Jugendlichen und 63 Prozent der Eltern zu, dass das Baugewerbe die Schaffung nachhaltigerer Gemeinschaften ermöglicht. Es besteht jedoch nach wie vor eine Wissenslücke hinsichtlich der tatsächlichen Bandbreite der in der Branche verfügbaren Aufgaben. Auch die Schlüsselrolle des Baugewerbes bei der technologischen Weiterentwicklung und die Möglichkeiten für eine berufliche Weiterentwicklung wird noch zu wenig gesehen.
Die ISG-Studie bezieht sich auf das Vereinigte Königreich. Hast du ein Beispiel, das besonders anschaulich für die neuen Erkenntnisse aus der Studie ist?
Beispielsweise gibt es in Nordengland, genauer gesagt in der Region North East eine sehr große Pipeline von Immobilien in der Nutzungsart Industrial. Hier muss in der Folge ein entsprechendes Qualifikations- und Arbeitskräfteangebot geschaffen werden, um weiterhin Investitionen in den industriellen Sektor anzuziehen. Der Sektor gilt als Schlüssel für den Wachstumsplan des Vereinigten Königreichs.
Denkst du, dass die Ergebnisse auf andere Länder übertragbar sind?
Auf jeden Fall! Ich habe die Hoffnung, dass eine Diskussion darüber in Gang kommt, wie wir die Investitionen in Arbeitsplätze und Immobilien als Indikator für die Zukunft nehmen können. Das Ziel ist, von einer reaktiven zu einer proaktiven Personalplanung zu gelangen. Junge Menschen brauchen diese Gewissheit, um ihre berufliche Laufbahn zu planen und sicherzustellen, dass sowohl Einzelpersonen als auch Unternehmen nicht zurückbleiben.
Wo siehst du in Deutschland vielversprechende Regionen für Investments? Was sind die Kriterien?
Generell hat Deutschland gute Wachstumsperspektiven. Das Land ist weiterhin eine attraktive Destination für Investitionen, wie kürzlich einige spektakuläre Investitionsentscheidungen gezeigt haben – insbesondere in Schlüsselbranchen. Beispiele aus der Halbleiterbranche sind die Entscheidungen von Wolfspeed für das Saarland, von Infineon für Dresden, von Intel für Magdeburg oder TMSC in Dresden. Beispiele aus dem Bereich Elektromobilität und Batterieproduktion sind u.a. die Investitionen von VW in Salzgitter, von BASF in Schwarzheide und Tesla in Grünheide. Beispiele aus dem Segment Maschinenbau und Schwerindustrie sind Siemens in Erlangen und thyssenkrupp mit der Produktion von „grünem“ Stahl in Duisburg.